Eine interessante Einschätzung der Piratenpartei von der Konrad-Adenauer-Stiftung

Eine demokratische Errungenschaft, Publikationen, Konrad-Adenauer-Stiftung.

Liquid Democracy und Partizipation

Hergen WöbkenBerlin21. Mai 2012
Herausgeber: Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.

Die Piratenpartei hat die politische Landschaft durcheinander gewirbelt. Noch wissen die etablierten Parteien nicht genau, wie sie auf den Neuankömmling reagieren sollen. Sie scheinen im Moment nur darauf zu warten, dass die Piraten Fehler machen, sich sehr schnell an das alte politische System anpassen oder scheitern. Und im Moment sieht es wirklich so aus, als lege sich die Partei durch innere Spannungen, fragwürdige Mitglieder und einen von vielen als inadäquat gesehenen politischen Umgang selbst die größten Steine in den Weg.

Doch was auch immer das Schicksal der Piraten sein mag – sie haben einen immens wichtigen Gedanken in die Gesellschaft hinein getragen, der für sich allein gesehen schon einer näheren Betrachtung würdig ist, nämlich die Idee der Liquid Democracy. Diese Idee steht für demokratische Partizipation, die Merkmale direkter und repräsentativer Demokratie miteinander verbindet. Der Leitgedanke von Liquid Democracy ist, durch internetbasierte Plattformen die Restriktionen bestehender politischer Entscheidungsprozesse zu verflüssigen, indem sich die Beteiligten von Fall zu Fall selbst entscheiden, ob sie über eine Frage oder ein Thema direkt abstimmen oder ihre Stimme delegieren. Die delegierte Stimme kann dabei jederzeit zurückgenommen werden. Ebenso ermöglicht Liquid Democracy jedem, eigene Vorschläge einzubringen. Durch den Einzug der Piratenpartei in deutsche Landesparlamente zieht auch das Konzept der Liquid Democracy in diese Parlamente ein: Die Piraten demonstrieren ihre Partizipationsform in aller Transparenz mit allen Vor- und Nachteilen und Irritationen, so dass sich auch die etablierten Parteien damit auseinandersetzen müssen. Während Anhänger der Piratenpartei das Konzept teilweise euphorisch unterstützen, stößt es bei Gegnern auf ebenso entschiedenen Widerstand. Im Hinblick auf die neuen Möglichkeiten durch das Internet sind jedoch weder Begeisterung noch Ablehnung fruchtbar. Hilfreich und in die Zukunft blickend ist es, gemeinsam eine politische Kultur im Umgang mit diesen Verfahren zu entwickeln, die hilft, uns den neuen Formen mit Offenheit und Experimentierfreude zu nähern. Nur so können wir sie kennenlernen und verstehen.

Um welches Problem geht es im Wesentlichen? Während die Bindung an Parteien in den letzten Jahren abnimmt, steigt das Interesse an Partizipationsmöglichkeiten. Wir wünschen uns als Bürger mehr Teilnahme an demokratischen Entscheidungsprozessen, wollen transparent über politische Prozesse informiert werden und im besten Fall unsere Vorschläge und Positionen aktiv in den Prozess einbringen. Eine hohe Partizipation schafft die beste Grundlage für einen vielfältigen und damit intelligenten Diskurs und ist damit beste Voraussetzung für eine lernfähige Demokratie. Wer allerdings tatsächlich Partizipationsmöglichkeiten erprobt, sei es in einer politischen Partei oder einer anderen Organisation, der erfährt schnell, dass ein in die Tat umgesetzter Anspruch an Teilhabe zeitintensiv und anstrengend sein kann. Dieses Dilemma möchte das Konzept der Liquid Democracy auflösen. Partizipation – so der Gedanke – sollte nicht frustrieren, sondern im besten Fall so einfach wie möglich praktiziert werden können und damit auch offen sein für Gruppen, die sich bisher nicht aktiv in die Politik einbringen.

Die Ursprünge von Liquid Democracy gehen auf Debatten innerhalb von Online-Communities zu Beginn des letzten Jahrzehnts zurück, die sich mit neuen Formen des politischen Prozesses und der Entscheidungsfindung angesichts der ausgeweiteten und bislang unerprobten Möglichkeiten des Internets beschäftigten. Die Piratenpartei, die in Deutschland 2006 gegründet wurde, unterscheidet dabei zwei Anwendungsfälle. Einmal den parteiinternen Einsatz, so wie er auch in jeder anderen Organisation auf vielfältige Weise möglich ist, und zum anderen als Alternative oder Ergänzung zur repräsentativen Demokratie durch Vertreter von Parteien in Parlamenten. So wollen die Piraten verwirklichen, was sie als ihren Anspruch an die Demokratie sehen: „Demokratie bedeutet, zu jeder Zeit gezielt zu einzelnen Themen verbindlich Stellung beziehen zu können und nicht nur alle vier Jahre die Wahl zwischen Parteien mit unverbindlichen Parteiprogrammen zu haben.“ Für die Piratenpartei ist Liquid Democracy ein wesentliches Merkmal, so wie es bei Sebastian Jabbusch nachzulesen ist, der sich in seiner Magisterarbeit im Jahr 2011 ausführlich mit dem Konzept seiner Partei beschäftigt. Er zitiert aus dem Parteiprogramm der Piratenpartei: „Die digitale Revolution ermöglicht der Menschheit eine Weiterentwicklung der Demokratie . Die Piratenpartei sieht es als Ihre Aufgabe an, die Anpassung der gelebten Demokratie in der Bundesrepublik an die neuen Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts zu begleiten und zu gestalten.“

Ein erstes Argument gegen das Konzept ist, dass viele Bürgerinnen und Bürger keinen Netzzugang haben oder anstreben, so dass diejenigen die politische Meinungsbildung dominieren, die eine technische Affinität haben und die Zeit aufbringen, um sich zu beteiligen. Einwänden dieser Art ist leicht zu begegnen, denn in spätestens einer weiteren Generation wird sich die Zahl der Netzbenutzer voraussichtlich dramatisch erhöht haben. Und begünstigt nicht auch eine Parteiendemokratie diejenigen, die Lust und Zeit aufbringen, sich in die Parteiarbeit einzubringen? Beispiele aus Schule und Universität zeigen, dass Interesse und Beteiligung umso stärker wachsen, je niedriger die Zugangsschwelle ist. Mit Liquid Feedback kann unmittelbar auf politische Entwicklungen reagiert werden. Das löst die Angst aus, dass politische Entscheidungen von kurzfristigen Stimmungen verzerrt werden. Und das ist eine berechtigte Sorge. Um sie aufzufangen, sieht das Prinzip der Liquid Democracy in Abstimmungsprozessen Mindestfristen vor. Zum anderen sollte man darauf hinweisen, dass auch traditionelle Berufspolitiker in Gefahr sind, auf kurzfristige Stimmungsschwankungen zu reagieren. Eine herausragende Eigenschaft von Liquid Democracy ist die Wahlfreiheit, nach der es jedem Beteiligten freigestellt ist, ob er seine Interessen selbstständig vertritt oder diese Aufgabe an andere überträgt. Durch dieses Prinzip werden Delegationsketten ermöglicht, in dem Delegierte die durch sie vertretenen Stimmen weiter übertragen. Gegner weisen darauf hin, dass auf diese Weise unerwünschte Machtkonzentrationen entstehen können. Das ist in der Tat ein bisher ungelöstes Problem, mit dem sich die Befürworter der Liquid Democracy auseinandersetzen müssen. Nicht geklärt ist ferner, wie das freie, allgemeine, gleiche und geheime Wahlrecht ohne Einflussmöglichkeiten und Risiken technischer Manipulation von dritter Seite umgesetzt wird. Ebenso offen ist die Frage, wann die prinzipielle Transparenz über alle Abstimmungen sinnvoll ist, und in welchen Situationen Abstimmungen geheim durchgeführt werden.

Trotz dieser Geburtswehen kann Liquid Democracy ein interessantes Programm für mehr Partizipation in politischen Entscheidungsprozessen werden. Die Frage ist nicht, welche Schwächen das Programm hat. Die Frage ist, welche Chancen es bietet, und wie bisherige Schwachpunkte aufgehoben werden können. Liquid Democracy ermöglicht themenspezifisch Entscheidungsmöglichkeiten jenseits von Parteiprogrammen oder Koalitionsvereinbarungen. Jeder kann darüber hinaus unabhängig von einem bürokratischen Petitionsverfahren selbst Initiator von Änderungsvorschlägen werden. Den Grad an politischer Teilnahme kann dabei jeder selbst bestimmen, und Liquid Democracy ermöglicht eine unmittelbare Partizipation an politischen Entscheidungsprozessen jenseits von Wahlterminen. Ein Pluspunkt von Liquid Democracy ist, dass Kritik an bestehenden Anträgen mit Alternativen oder Verbesserungsvorschlägen verbunden wird. Und bis zur Abstimmung sollen persönliche Gespräche durch einen virtuellen Austausch nicht ersetzt, sondern im besten Fall gefördert werden. In diesen Diskursen kann sich, bezogen auf den jeweiligen Anlass der Abstimmung, kreatives Potential entfalten, das in einer intelligenten und schnell lernfähigen Demokratie auch unmittelbar Einfluss auf das Abstimmungsergebnis haben kann. Das ist eine große Chance für alle, denen Bürgerbeteiligung am Herzen liegt.

Die Piratenpartei wird nach ihren Wahlerfolgen aufgefordert, mehr inhaltliche Programmatik zu entwickeln oder Köpfe zu präsentieren, die für die Leitlinien der Partei stehen. Bisherige Forderungen der Piraten gelten als utopisch und es wird vorhergesagt, dass die Piraten sich in der parlamentarischen Arbeit den Formalitäten und Verfahren der repräsentativen Demokratie anpassen und auch intern über Ämter und Posten in Streit geraten werden. Die bisherige Entwicklung scheint diesen Prognosen Recht zu geben. Und doch sollten die anderen Parteien nicht übersehen, dass es ein Bedürfnis nach einer anderen Politik- und Demokratieform zu geben scheint, und zwar in allen Schichten der Gesellschaft, wie Wähleranalysen zeigen. Sollten die etablierten Parteien den Erfolg der Piraten also nicht lieber zum Anlass nehmen, über eine demokratische Partizipationsmöglichkeit wie Liquid Democracy nachzudenken? Es ist vielleicht der innovativste Impuls für eine partizipatorische Belebung unserer Demokratie, der seit dem Aufstieg der Grünen zu beobachten war. Das Besondere der Piratenpartei liegt nicht im Inhalt, sondern in der Form.

Hergen Wöbken ist Leiter des IFSE und ein „Denker für morgen“.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.